Der AgNes-Prozess der Bundesnetzagentur und seine Bedeutung für Industrie- und Großverbraucher


In Kürze: 

Die Bundesnetzagentur reformiert mit dem AgNes-Prozess die Netzentgeltsystematik grundlegend, um stark steigende Netz-, Redispatch- und Ausbaukosten verursachungsgerechter abzubilden und systemdienliche Anreize im Zuge der Energiewende zu setzen. Kern des neuen Modells ist die Abkehr vom klassischen Leistungspreis auf Basis der Jahreshöchstlast hin zu einer kapazitätsbasierten Systematik mit ergänzenden Arbeitspreiskomponenten. Künftig werden Netzentgelte klar in eine Finanzierungsfunktion (Kapazitätspreis und statische Arbeitspreise) und eine Anreizfunktion (zeitlich und räumlich dynamische Entgelte) getrennt. Für Kunden ab der Umspannebene MS/NS sowie für Niederspannungskunden über 100.000 kWh bedeutet dies einen Paradigmenwechsel mit stärkerer Planbarkeit, aber auch höheren strategischen Anforderungen an Lastmanagement und Flexibilitätsnutzung. Die neuen Regelungen sollen ab 2029 angewendet werden und ersetzen mit dem Außerkrafttreten der StromNEV das bisherige Entgeltsystem vollständig.


Einleitung

Die Reform der Netzentgeltsystematik gewinnt vor dem Hintergrund stark steigender Netzkosten erheblich an Bedeutung. Der Umbau des Energiesystems führt nicht nur zu veränderten Last- und Einspeiseprofilen, sondern auch zu erheblichen zusätzlichen Investitions- und Betriebskosten in den Stromnetzen. Studien zeigen, dass sich die erforderlichen Investitionen in das Übertragungsnetz bis 2037 je nach Szenario auf deutlich über 250 bis 300 Mrd. Euro belaufen können, wobei sowohl der Onshore- als auch der Offshore-Ausbau wesentliche Kostentreiber darstellen. Parallel dazu steigen die laufenden Systemkosten deutlich: Die Redispatchkosten in Deutschland haben sich innerhalb weniger Jahre vervielfacht und erreichten 2022 mit rund 4,2 Mrd. Euro einen Höchststand.

Vor diesem Hintergrund haben sich die Rahmenbedingungen für den Netzbetrieb grundlegend verändert. Der zunehmende Ausbau erneuerbarer Energien, die wachsende dezentrale Einspeisung, die steigende Zahl von Prosumern und Speichern sowie der wachsende Bedarf an Flexibilität auf Verbraucher- und Einspeiseseite stellen neue Anforderungen an die Ausgestaltung der Netzentgelte. Diese müssen künftig nicht nur die Finanzierung der Netzinfrastruktur sicherstellen, sondern zugleich wirksame Anreize für netz- und systemdienliches Verhalten setzen.

Die beschriebenen Entwicklungen machen deutlich, dass die bestehende Netzentgeltsystematik die tatsächlichen Kostenwirkungen von Netzausbau, Engpassmanagement und der zunehmenden Gleichzeitigkeit von Einspeisung und Verbrauch nur unzureichend abbildet. Insbesondere die bislang zentrale Bepreisung der individuellen Jahreshöchstlast über den Leistungspreis steht zunehmend in der Kritik. Sie gilt als flexibilitätshemmend, da sie Anreize setzt, Lastspitzen unabhängig von der tatsächlichen Netzsituation zu vermeiden, und dadurch zu einer Vergleichmäßigung individueller Lastgänge führt – selbst dann, wenn dies systemisch nicht erforderlich oder sogar kontraproduktiv ist. Zudem bildet die individuelle Jahreshöchstlast den tatsächlichen Beitrag eines Netznutzers zu netzrelevanten Engpässen und langfristigen Ausbaukosten immer weniger adäquat ab. Vor diesem Hintergrund verfolgt die Bundesnetzagentur im Rahmen des AgNes-Prozesses ausdrücklich eine Abkehr vom klassischen Leistungspreis hin zu einer kapazitätsbasierten Systematik mit ergänzenden Arbeitspreiskomponenten.

Folgerichtig hat die Bundesnetzagentur am 12. Mai 2025 das Verfahren zur Allgemeinen Netzentgeltsystematik Strom (AgNes) eröffnet. Ziel ist die Entwicklung einer zukunftsfähigen, verursachungsgerechten und zugleich praktikablen Netzentgeltstruktur. Das zugehörige Diskussionspapier sowie das am 20. November 2025 veröffentlichte Sachstandspapier konkretisieren diesen Ansatz. Vorgeschlagen wird ein Netzentgeltmodell, welches konsequent auf zwei klar voneinander abgegrenzten Entgeltfunktionen beruht: einer Finanzierungsfunktion zur stabilen Refinanzierung der Netzkosten und einer Anreizfunktion zur Steuerung netzdienlichen Verhaltens. Für Kunden ab der Umspannebene MS/NS sowie für Niederspannungskunden mit einem Jahresverbrauch von mehr als 100.000 kWh zeichnet sich damit ein grundlegender Systemwechsel ab, der erhebliche Auswirkungen auf Kostenverteilung, Investitionsentscheidungen und Flexibilitätsstrategien haben dürfte.

Der AgNes-Prozess markiert damit einen zentralen Baustein zur Begrenzung steigender Systemkosten und zur effizienten Integration der Energiewende in den Netzbetrieb.

Entgeltkomponenten für Finanzierungs- und Anreizfunktion

Im Zentrum der Reformüberlegungen der Bundesnetzagentur steht eine klare funktionale Trennung der Netzentgelte in Finanzierungs- und Anreizkomponenten. Damit reagiert die BNetzA auf die doppelte Herausforderung steigender, kurzfristig kaum beeinflussbarer Netzkosten einerseits und des zunehmenden Bedarfs an netzdienlichem Verhalten andererseits. Beide Funktionen sollen künftig bewusst über unterschiedliche Entgeltbestandteile erfüllt werden, um Zielkonflikte, Fehlanreize und Intransparenz zu vermeiden.

Entgeltkomponenten mit Finanzierungsfunktion

Die Finanzierungsfunktion dient primär der stabilen und planbaren Refinanzierung der Erlösobergrenzen der Netzbetreiber. Diese Entgeltkomponenten sollen das Verhalten der Netznutzer möglichst wenig beeinflussen und insbesondere keine zusätzlichen Flexibilitätshemmnisse erzeugen. Für Kunden ab der Umspannebene MS/NS sowie für Niederspannungskunden mit einem Jahresverbrauch über 100.000 kWh schlägt die Bundesnetzagentur hierfür einen grundlegenden Systemwechsel vor.

Kern dieses Modells ist die Abkehr vom klassischen Leistungspreis, der auf der individuellen Jahreshöchstlast basiert. Dieser gilt zunehmend als problematisch, da er Flexibilität hemmt und zu einer Glättung individueller Lastgänge führt, selbst wenn dies systemisch nicht sinnvoll ist. An seine Stelle soll eine kapazitätsbasierte Systematik treten, die aus zwei eng miteinander verknüpften Arbeitspreiskomponenten besteht:

  • Arbeitspreis 1 für eine jährlich frei wählbaren Kapazität, die den wesentlichen Finanzierungsbeitrag zur Vorhaltung der Netzinfrastruktur leistet,
  • sowie einer zweistufig ausgestalteten mengenbezogenen Entgeltkomponente (Arbeitspreis 2), die zwischen Strombezug oberhalb dieser gewählten Kapazität unterscheidet.

Konkret bedeutet dies: Die mengenbezogene Netzentgeltkomponente in Form eines Arbeitspreises bleibt erhalten und wird in die Logik der Kapazitätssystematik integriert. Solange sich der Strombezug eines Kunden innerhalb der gewählten Kapazität bewegt, fällt ein niedrigerer Arbeitspreis (AP1) an. Wird die gewählte Kapazität überschritten, werden die darüber hinausgehenden Strommengen mit einem höheren Arbeitspreis (AP2) belegt. Dieser höhere Arbeitspreis ist ausdrücklich keine Sanktion und kein dynamisches Preissignal, sondern soll den Netznutzer zu einer realistischen und rationalen Wahl seiner Kapazität anreizen. Überschreitungen bleiben zulässig und verursachen lediglich moderate Grenzkosten, um den flexiblen Einsatz von Lasten nicht zu unterbinden.

Die beigefügte Dauerlinie eines Mittelspannungskunden verdeutlicht die Logik dieses Ansatzes: Die Wahl der Kapazität orientiert sich an der individuellen Jahresdauerlinie. Nur ein begrenzter Teil der Jahresarbeit liegt oberhalb der gewählten Kapazität und wird damit über den höheren Arbeitspreis (AP2) abgerechnet. Für den Netznutzer entsteht so ein optimierbares Verhältnis zwischen Kapazitäts- und Arbeitspreiskomponenten, ohne dass einzelne Lastspitzen überproportional verteuert werden.

Beispielhafte Darstellung der aufgeteilten bezogenen Kapazitäten. Quelle: Bundesnetzagentur

Für kleinere Niederspannungskunden unterhalb von 100.000 kWh soll die Finanzierungsfunktion hingegen weiterhin überwiegend über Arbeits- und Grundpreise erfolgen. Gleichzeitig betont die Bundesnetzagentur die Notwendigkeit einer fairen Kostenbeteiligung von Prosumern, etwa über angepasste Grundpreise, um Entsolidarisierungseffekte zu begrenzen.

Entgeltkomponenten mit Anreizfunktion

Während die Finanzierungsfunktion bestehende Kosten absichert, zielt die Anreizfunktion darauf ab, zukünftige Kostenwirkungen von Netznutzungs- und Investitionsentscheidungen zu internalisieren. Angesichts stark steigender Redispatch- und Netzausbaukosten misst die BNetzA dieser Funktion eine zentrale Bedeutung bei. Entgeltkomponenten mit Anreizfunktion sollen gezielt dort wirken, wo Verhalten tatsächlich systemrelevant ist, ohne die Netzfinanzierung zu gefährden.

Zentrales Instrument hierfür sind zeitlich und räumlich dynamische Arbeitspreise (AP3). Diese sollen die jeweilige Engpass- und Auslastungssituation im Netz abbilden – engpassscharf und idealerweise Day-Ahead. In Netzbereichen und Zeitfenstern ohne Engpässe entfällt die dynamische Komponente vollständig. In Engpasssituationen kann sie dagegen positiv oder negativ wirken: Netznutzer zahlen bei netzbelastendem Verhalten zusätzliche Entgelte oder erhalten bei netzentlastendem Verhalten eine Auszahlung.

Diese symmetrische Ausgestaltung unterstreicht den Charakter der Anreizkomponente als reines Steuerungsinstrument. Ziel ist nicht die Generierung zusätzlicher Einnahmen, sondern die Reduktion gesamtwirtschaftlicher Systemkosten, etwa durch vermiedenes Engpassmanagement oder verzögerten Netzausbau. Voraussetzung für die Wirksamkeit dieses Ansatzes ist allerdings eine hinreichende zeitliche und örtliche Granularität der Preissignale sowie eine verpflichtende Anwendung für definierte Nutzergruppen, um Mitnahmeeffekte zu vermeiden.

Die Bundesnetzagentur geht derzeit von einer gestaffelten Einführung aus. Beginnend in oberen Spannungsebenen und bei hoch flexiblen Akteuren – etwa Stand-alone-Speichern – sollen dynamische Entgelte schrittweise auf weitere Nutzergruppen ausgeweitet werden. Parallel dazu können Anreizwirkungen auch Investitionsentscheidungen beeinflussen, insbesondere über Baukostenzuschüsse, die künftig stärker kosten- und standortreflexiv ausgestaltet werden könnten.

Zusammenspiel beider Funktionen

Entscheidend für das Zielbild des AgNes-Prozesses ist das Zusammenspiel von Finanzierungs- und Anreizfunktion. Während Kapazitäts- und statische Arbeitspreise die Grundfinanzierung sicherstellen, adressieren dynamische Entgeltkomponenten gezielt jene Kosten, die durch das Verhalten der Netznutzer beeinflussbar sind. Damit entsteht erstmals eine systematische Trennung von Kostenabsicherung und Verhaltenssteuerung innerhalb der Netzentgelte.

Für Netzkunden ab MS/NS-Ebene bedeutet dies einen Paradigmenwechsel: Netzentgelte werden künftig stärker planbar, aber zugleich strategischer. Die Wahl der Kapazität, der Umgang mit Lastspitzen und der Einsatz von Flexibilität werden zu aktiven wirtschaftlichen Entscheidungsgrößen – mit unmittelbarer Wirkung auf Netzkosten und Systemstabilität.

Zeitablauf Agnes-Prozess

Der zeitliche Horizont des AgNes-Prozesses reicht bis in das Ende dieses Jahrzehnts und markiert einen tiefgreifenden regulatorischen Übergang. Spätestens zum 1. Januar 2029 sollen die neuen Vorgaben der Allgemeinen Netzentgeltsystematik Strom (AgNes) angewendet werden, zeitgleich treten Übergangsregelungen in Kraft. Bereits zum 31. Dezember 2028 läuft mit dem Außerkrafttreten der Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) das bisherige zentrale Regelwerk der Netzentgeltbildung aus. Damit ist klar, dass die aktuell diskutierten Festlegungen nicht nur konzeptionellen Charakter haben, sondern unmittelbar die künftige Praxis der Netzentgeltabrechnung bestimmen werden.

Der Weg dorthin ist mehrstufig angelegt. Nach der Erarbeitung und Konsultation eines finalen Festlegungsentwurfs bis Ende 2026 folgt ein mehrjähriger Umsetzungszeitraum, der unter anderem Anpassungen der Marktkommunikation und der Abrechnungssysteme erfordert. Die vorangehenden Expertenworkshops, Zwischenergebnisse und Konsultationen dienen dabei der fachlichen Verdichtung und praktischen Absicherung des Modells. Der von der Bundesnetzagentur skizzierte Zeitplan verdeutlicht, dass der AgNes-Prozess als schrittweise, aber verbindliche Transformation der Netzentgeltsystematik angelegt ist und den betroffenen Marktakteuren frühzeitig Planungssicherheit geben soll.

Zeitplan Agnes. Quelle: Bundesnetzagentur

Hinweis:
GALLEHR+PARTNER® unterstützt Sie bei Bedarf vollumfänglich zum Kontext der Netzentgeltreform :

Unsere Unterstützung im Bereich Industrie­trans­formation:

  • Techno-ökonomische Strategie­beratung für energie­intensive Industrie
  • Projekt­management in­klu­sive Risiko- und Stake­holder­­management
  • Nutzung bestehender CAPEX- und OPEX Förderregime (Klima­schutz­verträge/CO2-Differenz­verträge, BIK und EU-Innovations­fund)
  • Durchführung einer Voll­kosten­­kal­kula­tion zur Be­stimmung der finan­­ziellen Risiko­­position inkl. Berück­­sich­­tigung weiterer Förder­­mittel
  • Koordination von be­tei­lig­ten Projekt­­partnern (Behörden, Rechts­berater, Anlagen­bauern und Energie­lieferanten)
  • Ener­giemarkt­­projek­tionen
  • BMWE – Klimaschutz­verträge / CO2-Differenz­verträge)
  • Transformations­plan nach Modul 4 EEW

Bei weiteren Fragen stehen wir Ihnen gerne direkt zur Verfügung. Sprechen Sie uns gerne an.

GALLEHR+PARTNER® ist seit 2007 der erfahrene Lotse für die Wirt­schaft auf dem Weg zur CO₂-Neu­tra­lität. Zu dem Kunden­stamm von GALLEHR+PARTNER® gehört eine Viel­zahl na­tio­nal und inter­na­tio­nal re­nommier­ter Unter­nehmen. Diese berät und unter­stützt GALLEHR+PARTNER® teil­weise bis zur voll­ständigen eigen­ver­ant­wort­lichen Über­nahme re­le­van­ter Prozesse.

GALLEHR+PARTNER® ist eine in Deutschland eingetragene Marke von Sebastian Gallehr und bezieht sich auf die Leistungen des Unternehmernetzwerks, dem auch die Gallehr Sustainable Risk Management GmbH angehört.

GALLEHR + PARTNER®

Gallehr Sustainable Risk Management GmbH
Hauptstraße 43
D-61184 Karben

Tel.: +49 6039 92 63 686
Fax: +49 6039 92 63 689

E-Mail: kontakt@gallehr.de

Privacy Preference Center